Keine gewöhnlichen Momente

Konzertkritik: Archive im Kaufleuten
Bildquelle: 
Bäckstage / © Patrick Holenstein

Am Anfang war der Krach. Verzerrte Stimmen irrlichtern durch synthetisches Rauschen, aus dem sich ein hypnotisches Rasseln schält. Rasch mutiert es zu einem giftigen Maschinengewehrfeuer inmitten epileptischer Klangblitze. Direkt am Bühnenrand zuckt auf einem dichten Vorhang aus weissen Kordeln abstraktes Konfetti. Silhouetten und rote Totenköpfe geistern vorüber. Dahinter stehen finstere Mannsbilder in Position, in ihrem Rücken eine weitere Projektionsfläche, erfüllt von einer monumentalen VHS-Störung. Für Fotografen ein schwer fokussierbarer Farbenrausch, doch fünf Meter vor der Bühne ist es das MTV, das wir immer wollten. Es ist als könne man durch die Bildröhre, direkt hinein in den Videoclip sehen. Mit unablässigen Wiederholungen treibt der gewohnt streng dreinblickende Pollard musikalische Nägel in die Schädel der Fans. Mit seinem runden Hut und dem Poncho wirkt er wie der peruanische Guy Fawkes, und Dave, der zweite Sänger, erinnert mit dem goldbedruckten T-Shirt an einen Mayapriester. Am Bühnenrand sitzen sich die Generäle der Band gegenüber. Der hochgewachsene Darius und der bärtige Danny. Wie die Musiker im Hintergrund tragen sie schwarze Uniformen mit dem Spiegel-F auf dem Oberarm. 

 

Pianotiraden wickeln sich um Trommelwirbel, das Schlagzeug kreuzt die Klingen mit dem Drumcomputer, entrückte Echos ergiessen sich durch Achtzigerbässe, alles eng umhüllt von Gitarrenwänden und beseelt von innigem Gesang. Leider verflüchtigt sich der Klang an manchen Stellen übers Publikum hinweg, so als stünde man im Hallenstadion zuhinterst. Zu viel Hall auf den Mikrophonen, zu zahm der Bass und die meisten Pianospuren müssen aus der Erinnerung gezeichnet werden. An der Band liegt es nicht. Die Spuren fügen sich perfekt ineinander wie Pyramidenbausteine und der männliche Doppelgesang bekommt gleich Verstärkung. 

 

Fotos: Patrick Holenstein

 

Noch als sie sich hinter Pollard und Dave verschanzt, schreien die Leute.  Sängerin Holly traut sich im dunkelblauen Paillettenkleid ganz nah an die Kordeln heran. Mit ihren grossen, traurigen Augen wirkt sie so zerbrechlich, dass man sie drücken möchte. Aber nur bis sie den Mund öffnet und Urkräfte entfesselt. Erst schwingt sie das «Hatchet» und beim folgenden «Kid Corner» fällt der Vorhang. Band und Publikum stehen sich endlich gegenüber. Das Kauf ist ausser sich. Auch Darius kann nicht länger stillsitzen, springt auf, lässt begeistert die Fäuste kreisen. Ein Keyboarder mit echten Frontmannqualitäten. «Splinters», «Blue Faces» und «Bright Lights» drosseln bald das Tempo und schöpfen aus emotionalen Tiefen. Schliesslich markieren das spröde «Feel it» und das stramm marschierende «Controlling Crowds» bereits das Ende der Zugabe. 

 

Nun steht es im Licht, dieses Kollektiv, das sich seit 22 Jahren von Trip Hop über Prog-Rock in ständig neue Richtungen wagt, ohne je den eigenen Klang zu verlieren. Dessen Mitglieder manchmal eigene Wege gehen, jedoch immer wieder zusammenfinden, um Lieder über zerbrochene Träume, persönliche Tragödien und den Aufstand gegen die Weltregierung zu ersinnen. In Pathos und Kitsch haben sie sich dabei nie verloren, denn ihre Musik ist gelebtes Leid, ist Trost, lebt tief im Herzen. Sogar Pollard strahlt. Aus der segmentierten Zuneigung, mit der wir Zürcher uns für gewöhnlich begegnen, ist ein einheitlicher Ruf nach mehr geworden. Mehr von dieser schwarz schimmernden Liebe. 

 

Und mehr werden wir bekommen. Dave und Darius kehren nach minutenlangem Flehen zurück und anerkennen das Publikum mit dem Klassiker «Again». Nicht in der viertelstündigen Version, doch Dave singt so innbrünstig als stünde er in Flammen. Ich habe es selbst gesehen: Craig Walkers Geist hat ihm dabei über die Schulter gelächelt. Diese Band mag unglaublich routiniert sein, doch für gewöhnliche Momente ist ihre Liebe zur Musik zu stark. Und mich überkommt ein Gedanke, der mich bisher nach keinem Konzert gestreift hat. Ich könnte jetzt wirklich noch zwei weitere volle Stunden vertragen. 

 

Mike Mateescu / Mi, 30. Nov 2016